Ein Reisebericht von Sibylle Rauscher

 

Tohoku – ein Jahr später

Endlich erreiche ich Kesennuma. Im Bahnhofsladen kaufe ich ein Mini-anpan und sorge
damit für meine fast tägliche Dosis azuki. Auf meine Frage nach der Situation im vorigen Jahr
erhalte ich von der Verkäuferin einen fotokopierten Plan, auf dem sie gelbe Linien
einzeichnet, damit ich die zerstörten und beschädigten Stadtteile erkennen kann. Kesennuma:
das war einer der Orte, deren Bilder immer wieder gezeigt wurden damals, nach dem Tsunami
vom 11. März. Im ziemlich kleinen Tourismusbüro besorge ich mir einen Flyer über den Ort.
Als ich den Mann dort nach der aktuellen Situation frage, wird er fast verlegen, erklärt dann,
dass hierher früher vor allem Badegäste kamen, dass aber die Strände teilweise absackten, viel
Sand weggeschwemmt wurde. Aufräumen reiche da nicht. Er wirkt resigniert.

 

Da die weitere Bahnstrecke unbefahrbar ist und der Bus äußerst selten fährt, holt mich Herr
Suzuki, der Besitzer des ryokan, mit dem Auto ab. Er spricht sehr schnell, in dem Irrglauben,
ich verstünde alles. Fischfang? Doch, man fährt wieder aus – ich sehe auch einige Schiffe am
Hafen. Kesennuma liegt an einer weiten Bucht. Eigentlich ist es schön hier, zumal bei
Sonnenschein. Wir fahren durch vom Tsunami betroffene Stadtteile, wo man noch
eingedrückte Hauswände sieht, ein offenes oberes Stockwerk, freie Flächen, auf denen früher
Häuser standen: Wohnhäuser und Läden. Die höher gelegenen Häuser waren natürlich gut
daran. – Mitten im Ort ragt ein großes Schiff auf, streckt seinen roten Bug ins Niemandsland.
Dann sehe ich die zerstörte Bahnstrecke. Die Straße führt durch hügeliges Gelände, ein wenig
entfernt vom Meer. Dann wieder hat man Ausblick aufs Wasser, auf Felsen. Es ist eine
malerische Gegend. Aber die Wegweiser, die auftauchen, tragen Namen anderer
Unglücksstätten: Minamisanriku, Ofunato…

 

Kesennuma gehört noch zur Präfektur Miyagi, während Rikuzen-Takata schon in Iwate liegt.
Der Name dieses Ortes war im März 2011 noch öfter im Fernsehen zu hören als der von
Kesennuma, als der einer Stadt, die durch die Fluten beinahe vollständig zerstört wurde. Wir
fahren ein wenig umher, und mein Fahrer zeigt auf ein großes helles, verlassenes Gebäude:
das war einmal die Mittelschule. Weiter vorn, links vor dem Hügel, steht das
Grundschulgebäude. Hier schlug das Wasser bis zum dritten, ja vierten Stock zu. Waren alle
evakuiert worden?? Jenseits des Flusses ragt die inzwischen berühmte einzelne Kiefer in den
Himmel 一本の松. Sie allein blieb stehen, als einzige von ungefähr siebzigtausend
Kiefernbäumen, die dort angepflanzt worden waren, ein echter Kiefernwald.

 

Dort drüben war ein Hotel, hier ein Einkaufszentrum, Läden gab es, Wohnhäuser – alles ist
weg. Von der Stadt ist so gut wie nichts mehr da; was an größeren Gebäuden noch steht, war
evakuiert worden – wenn es gelang – ist nun aber unbewohnbar. Wozu auch herrichten? Die
Menschen, sofern sie sich retten konnten, sind fortgezogen. Manche waren gar nicht im
Stande gewesen, sich selbst zu retten; dramatisch muss die Evakuierung des Krankenhauses
gewesen sein.
Im verwüsteten Zentrum, das planiert wurde, türmen sich Berge von hölzernem Bauschutt
und anderem Material auf, alles offensichtlich wohlgeordnet. Andernorts wird noch
aufgeschichtet. Es sind Riesenmisthaufen, die Ausscheidungen der Katastrophe. Die
Vorstellung, dass hier eine Stadt existierte, fällt schwer. Ob sie je wiedererstehen wird? Wird
man Häuser bauen? Zuerst werden es Brücken sein, muss die Infrastruktur wiederhergestellt
werden. Provisorisch wirken manche Straßen, auch die, welche an den Ortsrand führen, wo
ein Laden- und Einkaufszentrum errichtet wurde, auch dieses eher provisorisch. Die Natur,
die Felder wirken „normal“; aber sie nahmen Schaden durch das salzige Wasser.

 

Frühling kommt ins Land –
im Herzen von Takata
fehlt die Pflaumenblüte

 

Herr Suzuki fährt mit mir zu einem „Volunteer center“, weil ich ihm meine Absicht mitgeteilt
hatte, mich nützlich zu machen. Wir erfahren, dass dienstags geschlossen ist und dass an
diesem Mittwoch auch nichts lossein wird, weil zum Monatsanfang neu geplant wird.
Neubeginn der Arbeiten ist am 5. April, aber da wollte, müsste ich schon weiter sein. Ich
bedauere, dass ich nur guten Willen bekunden konnte.
Wir fahren in Richtung Yahagi-onsen, kommen an scheinbar verschont gebliebenen Ortsteilen
vorbei. Doch der Schein trügt eben: auch die Ausläufer des Tsunami waren hoch, das Wasser
schlug gegen die Häuser. Nur hat man inzwischen die Schäden beseitigt. Mein Fahrer-Führer
erklärt: hier gab es Ackerland, dort eine Fabrik; an dieses Ufer wurden Garagen geschwemmt,
hier wurde ein „light van“ herumgewirbelt, gegen dieses Haus ein Auto geschleudert, und bis
weit oben am Fluss rissen die Fluten Dinge mit sich. Brücken wurden zerstört,
Behelfsbrücken gibt es nun, nicht aber für die Eisenbahn, deren Eisenbrücke weggeschwemmt
worden war. Die Strecke ist ohnehin nicht befahrbar.

 

Yahagi-onsen liegt ungefähr drei Kilometer vom Ortszentrum von Takata entfernt. Auch
hierhin schwappte das Wasser, als der Tsunami seinen Weg flussaufwärts nahm. Das ryokan,
in dem ich nächtigen werde, ist ziemlich einfach. Es beherbergt Freiwillige, vor allem aber
Arbeiter und andere Hilfskräfte, die bei Bauarbeiten beschäftigt sind. Mein Zimmer ist
einfach wie das ganze Haus. Der mit Gas beheizte Ofen riecht außerordentlich. Schalte ich
ihn aus, ist es empfindlich kalt, vor allem, wenn ich lüfte. Ich entrinne der Situation, indem
ich einen Spaziergang mache, um die ländliche Umgebung zu erkunden.
An kleinen Feldern entlang nehme ich den Weg, der schließlich auf die Anhöhe führt, auf der
ich schon von weitem den Tempel entdeckt habe. Ich entziffere den Namen: 長谷山観音寺
Hasezan Kannon-ji. Also auch hier verehrt man die in Japan besonders beliebte Kannon,
Avalokiteshvara, Verkörperung der erbarmenden Gnade Amidas. Ich treffe auf einen älteren
Herrn, der gerade aus einem Auto steigt. Natürlich fragt er mich, woher ich komme. Als er ド
イツ hört, ist er sichtlich erfreut, auch über mein Japanisch. Er erwähnt die deutsche
Wiedervereinigung, bemerkt, wie schön das doch sei. Und auch Vietnam! Jetzt bleibe nur
noch Korea – aber die Rakete! Ich erwähne die Angst der Menschen auf Okinawa…

 

Der Herr gibt sich als Jûshoku zu erkennen, als Oberpriester 住職. Ich bitte ihn um ein
Faltblatt, falls vorhanden. Es gibt eines; denn der Tempel ist nicht ganz unbedeutend, gehört
er doch zu den dreiunddreißig Stationen eines Kannon-Pilgerweges in Iwate. Dieser Ort der
Verehrung hat die Nummer 20; für die Pilger auf dem Kannonweg der Region Kesen trägt er
die Nummer 7, ebenfalls von dreiunddreißig. Solche Pilgerwege findet man auch andernorts
in Japan, meist zu Stätten der Shingon-Sekte, zu der auch dieser Tempel gehört. In der
Haupthalle, neben der wir stehen, wird zwar Dainichi nyorai verehrt, aber die volkstümliche
Kannon scheint eine größere Rolle zu spielen. So weist mich denn der Priester eigens auf die
elfköpfige Kannonfigur hin, die oben in einer eigenen Halle verehrt wird, sie sei ziemlich alt.

 

Über eine steile Treppe, an kräftigen Sugibäumen vorbei, steige ich hinauf zum Vorplatz und
nähere mich erwartungsvoll der Kannondô. Ich kann aber nichts sehen, weil die Skulptur
hinter einem Brokatvorhang verborgen ist. Unmittelbar vor der Halle hängt ein gewundenes,
mit Schellen versehenes Seil herab, das der Gläubige schütteln kann, um auf sich aufmerksam
zu machen. Zusammen mit dem horizontal vor dem Gebäude angebrachten shimenawa
symbolisiert es die Gegenwart des Shintoismus – und in der Symbiose mit der Tempelhalle
den in Japan allgegenwärtigen Ryôbu Shintô. – Ich gehe einige Schritte weiter, bis jenseits
von Sugi und Bambus der Friedhof, oben am Berg, in mein Blickfeld gerät. Niemand ist
unterwegs. Einen Augenblick fühle ich mich ziemlich einsam. Ich kehre um. Der Priester hat
sich in sein Haus zurückgezogen. Und zur Kannon betet heute wohl niemand. Durch das
untere Tor, einen doppelstöckigen Holzbau von schlichter, natürlicher Schönheit nehme ich
den Weg hinunter zur Straße und gehe in die Richtung zurück, aus der ich gekommen bin.

 

Kleine Gärten, frisch bearbeitete Gemüsebeete trotzen im Nachhinein den Fluten vom Vorjahr.
Blumentöpfe mit verschiedenen Pflanzen verkünden, dass nun Frühling werden soll! Und ein
alter Hinokibaum ist so verehrungswürdig mit seinen vielen frischen Trieben unten am Stamm,
dass er mit einem kleinen Shimenawa geschmückt wurde. Er wächst ohnehin auf besonderem
Grund: wenige Schritte entfernt steht ein Torii aus Stein. Die steile Treppe, die zum Schrein,
dem „Amaterasu Mioya Jinja“ hinaufführt, verschwindet zwischen den Sugibäumen. Unten,
in der Nähe, von der Straße aus sichtbar, wurde ein großes Stoffbanner angebracht, auf dem
zu lesen steht: 全国の皆さん、ご 至情ありがとうございます。矢作町内会 Die
Menschen hier bedanken sich für die Anteilnahme und Hilfe ihrer Landsleute.

 

Am Fuß des kleinen Berges, am Waldrand, ducken sich einige Häuser. Eines ist fast versteckt
zwischen Bambusbäumen. Alles ist still. Durch die Glasscheiben ist selbst von weitem zu
erkennen, dass das Shôjigami arg beschädigt ist. Aber es wohnt wohl jemand hier, oder
kommt manchmal her, frisch bearbeitete dunkle Erde für ein Gemüsebeet deutet darauf hin.
Ich gehe ein kleines Stück den Waldweg entlang, als könnte ich noch etwas entdecken.
Etwas später überquere ich die Bahngleise, die wie aufgegeben und verlassen daliegen, und
gelange in den Ort Yahagi. Ansehnliche Häuser sehe ich, aber auch sehr einfache. Hier und da
wurde Erde zu flachen Hügeln aufgeschüttet, die ein Halbrund bilden und mit verschiedenen
Sträuchern bepflanzt wurden, dazwischen eine Kiefer und eine Steinlaterne: Inbegriff eines
japanischen Gartens. Und überhaupt diese Bäume! Immer wieder Kiefern, krumm
gewachsene kleine Pflaumenbäume! Und abermals Blumen in Töpfen, wie um den Frühling
herbeizuzwingen. Aber auch am Boden blüht es: Tulpen, und in einem Garten viele Büschel
von Narzissen. Über den sandigen Boden trippelt plötzlich eine Bachstelze. Ich muss an die
vielen Bilder von Vögeln mit Blumen denken, die Kunst der kachô, die von manchen
Meistern besonders gepflegt wurde.

 

Im Ort sind kaum Leute unterwegs, ab und zu ein Auto, ein Mofa. Aber ein Wanderweg, eine
„Haikingu“-Strecke ist ausgewiesen – für die Einheimischen oder für Touristen? Zu sehen
gibt es hier eigentlich nichts Besonderes. Doch fällt mir immer wieder irgendetwas auf, zum
Beispiel die merkwürdigen kugelförmigen Gebilde, große „Klöße“, aus Kiefernwurzeln, wie
es scheint, die an Kiefern gehängt wurden – gegen Schädlinge? Oder sollen sie Unterschlupf
bieten, wofür auch immer… Ich bin nun auf dem Rückweg, Heimweg zu meinem Quartier.
Ich komme an verlassenen Häusern vorbei, die mehr oder weniger sichtbar beschädigt sind.
Die niedrigen Gitter am Straßenrand sind verbogen, umgestürzt. Der Fluss ist nicht groß, aber
in einem Flussbett, einem Tal findet ein Tsunami von der Größe des Vorjahres ungehindert
seine Bahn. Er bricht über alles herein, was auf dieser Bahn liegt und steht. Ein älteres Haus,
dessen besondere Zier ein kleiner Erker mit Holzschnitzereien ist, muss nun die
Kunststoffverkleidung erdulden, mit der die Wand daneben geschützt wird. Hier und da ist
zwischen dem Fachwerk der Lehm abgebröckelt, so dass die darunter liegende
Bambusstruktur zu sehen ist. In diesem Haus wohnt niemand mehr…

 

Kamelie blüht noch nicht.
Um das unbewohnte Haus
flattern die Spatzen

 

Ich kehre zurück zum Onsen. Eigentlich ist diese Bezeichnung ein Etikettenschwindel; denn
es handelt sich hier nicht um eine natürliche heiße Quelle. Das Wasser vom Berg, das
angeblich gut auf die Gesundheit wirkt, wird im Hause erhitzt. Für die Bewohner von Yahagi
ist diese Einrichtung anscheinend das öffentliche Bad. Im genkan sehe ich Leute kommen und
gehen, die letzteren mit von der Wärme geröteten Gesichtern, die anderen erwartungsfroh: für
den Japaner ist das tägliche o-furo ein unverzichtbarer Genuss.

 

Zu einem kurzen Gespräch treffe ich mich mit Herrn Gotô, dem mich Herr Suzuki empfohlen
hat. Herr Gotô ist dazu da, sich um einzelne „volunteer“ zu kümmern. Er stammt aus Fukui
und ist laut Suzuki seit einem Jahr hier, um sich nützlich zu machen. Morgen wird er sich
meiner annehmen.

 

Mich zieht es nun mächtig ins heiße Bad. Aber zuvor müssen die Futon ausgebreitet werden.
Im Frauenbad komme ich mit einer Frau aus Takata ins Gespräch. Sie erzählt, dass sie
Rückenschmerzen habe und dass das eisenhaltige Wasser ihr guttue. Ich erfahre, dass sie
voriges Jahr verschont blieb, weil ihr Haus hoch genug gelegen ist. Aber sie hat Verwandte
verloren: Geschwister, Neffen. Ein eineinhalbjähriges Kind überlebte, wurde drei Monate
von einer Familie betreut und ist nun in einem Heim untergebracht. Sie besucht es ab und zu.
Ich frage sie, ob Fukushima ein Gesprächsthema sei, hier gebe es doch ohnehin genügend
Probleme. Aber die Havarie des AKW ist präsent: die Frau besitzt ein Gemüsegeschäft. Alles
wird geprüft, damit sie unbelastete Ware verkaufen kann.

 

 

Dienstag, 3. April

 

Heute fährt mich Herr Goto durch die Stadt Takata, deren Gebiet sich über mehrere Buchten
erstreckt. Ich habe Gelegenheit, mich ausgiebig umzuschauen, was mir nicht ganz behagt,
weil es ein wenig voyeuristisch ist. Vielleicht kann ich mir zugutehalten, dass ich eigentlich in
irgendeiner Weise helfen wollte. Teruko hatte mir zugeraten, weil ich genügend Japanisch
könne. Nun werde ich umhergefahren und sehe Behelfsbauten, die als Rathaus, Schule oder
Wohnraum fungieren müssen. Ich sehe Wohncontainer oder kleine Häuser in Gruppen ab
sieben Einheiten, bis zwanzig oder auch mehr. Das Ausmaß der Zerstörung ist gigantisch, die
Katastrophe kaum vorstellbar, obwohl damals so viele Bilder im Fernsehen übertragen
wurden.

 

Herr Goto fährt näher heran, mitten hinein in die Wüste. Einzelne Wohnblöcke stehen noch,
aber das Wasser reichte bis zum vierten Stock. Das Bahnhofsgebäude existiert nicht mehr,
viel Fläche ist „tabula rasa“. Ein Einkaufszentrum steht auch noch, aber für wen? Außerdem
ist es wahrscheinlich stark beschädigt. Vormals gab es 25000 Einwohner, jetzt leben hier
20000 Menschen, die vielen Arbeiter eingerechnet. Über tausend Tote waren zu beklagen. Ins
Rathaus hatten sich Menschen aus einem benachbarten Gebäude geflüchtet; mehr als hundert
kamen hier schließlich um. Das Gebäude steht noch, unbrauchbar wie die anderen. Im
Eingang hat man eine Art kleinen Altar aufgebaut, den die Trauernden mit Blumen,
Weihrauch und Faltkranichen, den beliebten Glückssymbolen, geschmückt haben. Sonst
bringt man gern Kranken diese Papiergebilde mit, Genesung wünschend.…

 

Wir fahren an Reisfeldern vorbei, tanbo. Wann wird man sie wieder bestellen können? Wie
verschwindet das Salz? Wir kommen durch einen Ortsteil, der die Fluten an zwei Seiten, aus
zwei Buchten, aushalten musste. Dann erreichen wir einen geschützten Ort, den Tempel
Fumonji, der zur Sôtô-Schule des Zen-Buddhismus gehört. Er ist relativ alt. Schöne
Holzschnitzereien schmücken die Gebäude. Herr Gotô erklärt mir, dass es in dieser früher
Kesen genannten Gegend viele geschickte Zimmerleute gab, die Kesen-daiku. Anders als
üblich beherrschten sie gleichermaßen Hausbau und Tempelbau.
Still ist es hier. In diesem Tempel wurden viele beigesetzt, die man nicht identifizieren konnte.
Blumen schmücken den Tempelraum, es riecht nach Räucherwerk. Augenblick des
Gedenkens. Dann wieder ins Freie, wo man den Friedhof sehen kann. Er liegt hinter dem
Tempel, am Berghang, ein wahrhaft friedlicher Ort. Und etwas später sehen wir noch einen
unversehrten Flecken: eine Bucht mit kleinen Felsen im Wasser, so schön und so typisch für
japanische Küstenlandschaft! Hier drang merkwürdigerweise die Flut nicht durch. Dagegen
brandete der Tsunami bis zu einem Hügel hinauf, zu einem kleinen Schrein und Tempel.
Weiter unterhalb zeigt mir Herr Goto eine weiße Holzlatte, auf der vermerkt ist 明治29年
und 昭和35年: auch im Jahre 1896 und nochmals 1960 wütete ein Tsunami. Unbeirrt
wachsen am Hügel Apfelbäume.

 

Die berühmte Kiefer 一本の松sehe ich heute aus der Nähe, trauriges Überbleibsel des seit
der Meiji-Zeit angelegten Kiefernwaldes mit zigtausend Bäumen, eines Bereichs herrlichster
Natur. Dazu war er Freizeitparadies, ein Ort der Erholung. Aber Zeltlager und Badestrand
sind verschwunden. Das Gebäude eines Ferienheims steht noch da, nutzlos und unbrauchbar
wie die anderen. Und das Gebäude am Badestrand ist beschädigt, teilweise abgesackt und wie
im Sand versinkend. Drüben das Schleusentor steht festgefügt, wirkt aber bizarr und
gespenstisch. Anderswo hatte ich von einer Straßenbrücke nur noch die Betonstützen gesehen,
die sich wie geballte Fäuste in die Luft reckten.

 

Anschließend fahren wir zu einem Volunteer Camp in Kesenchô Kamiosabe 気仙町上長部.
Es wird von „Magokoro net“ betrieben. Dort sitzen Frauen und häkeln Etuis für Telefone –
vulgo „handy“ – und auch Wischlappen. Andere kochen das Mittagessen für die Helfer und
für die Männer, die Holzarbeiten machen, einfache Holzmöbel. Auch die offene Holzhütte, in
der gegessen wird, haben sie gebaut. Omusubi gibt es, saisongemäß mit sansai und miso
gefüllt. Ich soll unbedingt probieren, denn das gebe es nur in dieser Jahreszeit. Die warme
Suppe mit Tofu, grätenreichem aber leckerem Fisch und etwas Gemüse schmeckt gut, zumal
bei dieser kalten Witterung.

 

Alle die hier arbeiten, sind Freiwillige, aus vielen Gegenden des Landes (aus Okayama,
Osaka u.a.), aber auch Ausländer. Gerade sind Amerikaner da. Sie waren mit Betonarbeiten
beschäftigt, um Gehwege anzulegen. Da ist zum Beispiel Jim aus Tennessee. Er hat ein wenig
Deutsch gelernt und versucht, es anzuwenden. Sein Sohn lebt in Marburg, wo er mit einer
Deutschen verheiratet ist. Er will auch missionieren, der Baptist. (Wenigstens ist er kein
Fundamentalist oder hängt irgendeiner obskuren Sekte an.) Ich frage mich, ob in Deutschland
inzwischen Missionierung nötig sei? Manche sehen es wohl so.

 

Dieser Ortsteil ist ungefähr zwei Kilometer vom Zentrum von Takata, also von der Küste,
entfernt. Aber die Welle kam bis hierher und zerstörte Häuser und Äcker. Brache breitet sich
noch immer aus. Morgen soll ein Bauplatz geweiht werden, der Platz für einen Treffpunkt
oder „Gemeindezentrum“, das mit Hilfe deutscher Spenden gebaut werden wird. Ein Vertreter
der deutschen Botschaft wird kommen, auch der Vizepräsident der DJG Berlin, Herr Takeya,
und andere, die für wichtig gehalten werden.
Am Bauplatz spreche ich mit einem Mann, der mich zuvor gefragt hatte, ob man die deutsche
Flagge an einer Bambusstange, quasi an einem Baum befestigen könne, an dem noch die
Blätter sind. Warum eigentlich nicht? Am Ort überstandener Katastrophen sind andere Dinge
wichtiger. Dieser Mann kam nicht als Freiwilliger von auswärts, er ist von hier, ist einer der
otôsan-tachi, wie sie die älteren Helfer aus dem Ort nennen. Er erzählt von dem Tag, an dem
das Meerwasser bis zur Dachhöhe des gegenwärtigen Gebäudes reichte, also um die drei
Meter hoch. Noch weitere vier-, fünfhundert Meter drang es vor. Die Menschen hatten nicht
damit gerechnet, rannten die Straße weiter aufwärts, wurden aber doch mitgerissen. Der
Tonfall des Mannes ist resigniert, traurig. Kein Lächeln steht in seinem Gesicht, die Trauer ist
zu groß. Bis zum Waldrand wurden fast alle Häuser zerstört.

 

Im Feuerbecken, einem großen Eisenfass, wird gerade Holz nachgelegt: Bambus! Man erklärt
mir, dass dieses Holz besonders gut Hitze entwickele. Wir stehen um das Fass herum und
wärmen uns die Hände. Am liebsten würde ich auch die Füße… Die Freiwilligen gehen jetzt,
auch der Verantwortliche, Herr Kurozumi. Der kommt aus Okayama, war voriges Jahr ab Mai
drei Monate lang als Freiwilliger vor Ort. Im August verbrachte er die Ferien mit seiner
Familie, mit seinen Kindern, die dreizehn und fünfzehn Jahre alt sind. Dann kam er wieder
hierher, lebte bis Dezember von eigenen Reserven, die er durch seine Tätigkeit in einer Firma
erarbeitet hatte. Schließlich wurde er sozusagen Angestellter der NPO Magokoro-net, mit
geringem Gehalt. Ihm überreiche ich eine Spende, als Ersatz für Hilfe, die ich nicht leisten
konnte. Sie gilt der Organisation, hilft also auch an anderen Orten in der Gegend.

 

Herr Goto holt mich ab. Wir fahren am neuen Rathaus vorbei, das seit zwei Tagen
fertiggestellt ist; es muss nur noch der Vorplatz asphaltiert werden. Ich sehe provisorische
Läden. Mein Begleiter hält an und kauft für mich Gebäck, das Frauen, vom Tsunami
geschädigte, zubereitet haben. Einige Meter weiter steht ein Bus, der zur Imbißstube
umfunktioniert wurde: soba und udon kann man dort essen. In einem anderen Provisorium
werden Bücher und Schreibwaren verkauft. Ich suche eine Karte, um mich zu orientieren,
sehe die zerklüftete Küste, die Landzungen, die Buchten bis Ofunato.

 

Wieder in Yahagi, begeben wir uns zu dem großen Gebäude am Hügel, das ich gestern von
weitem sah. Es ist die Grundschule von Yahagi, eine Einrichtung der Stadt Rikuzen Takata
陸前高田市立矢作小学校. Man hat dort drei Schulen zusammengelegt. Nebenan wurden
Behelfswohnungen errichtet, acht Reihen mit je sechs Einheiten. Herr G. besucht Frau
Sakurada, eine ältere Frau, sie soll weit über siebzig sein. Sie ist ein geselliger Mensch, mag
es eigentlich にぎやか, aber hier geht es gar nicht lebhaft zu: sie lebt allein. Ihr schönes
traditionelles Haus, drüben im Ort, wurde durch den Tsunami arg mitgenommen. Soll man es
wiederherrichten? Neu aufbauen auf erhöhtem Terrain? Ihr Sohn, der in Morioka lebt, kann
nicht oft kommen. Was soll nur werden! Am liebsten würde sie diesen Container verlassen.
Fast entschuldigend deutet sie auf alles, was da ausgebreitet liegt in Metallregalen, sie habe ja
keinen Schrank! Aber sie freut sich, Gastgeberin zu sein, bietet frisch zubereiteten Tee an,
dazu Misopan, ein Gebäck, das wie Bohnenkuchen ausschaut, schält eine große Mandarine
und verteilt die Stücke. Sie genießt den Besuch. Herr Goto schaut immer wieder mal bei ihr
vorbei. Ohne diese Besuche – eine karitative Aufgabe! – droht Langeweile, trotz Fernseher.
Der läuft auch in unserer Anwesenheit. Gerade wird über den Frühlingssturm im Kantô-
Gebiet berichtet.
Inzwischen hat es zu regnen begonnen. Von meinem bescheidenen Zimmer aus sehe ich den
Kannon-Tempel und den Bambushain davor. Ein Raubvogel kreist hoch über dem Feld. Auf
dem Stoffbanner, das vor dem Haus neben der geformten Kiefer an einem Mast flattert,
entziffere ich がんばっぺし!! 陸前高田 Im Dialekt (ganbappeshi statt ganbatte) wird
Rikuzen Takata aufgerufen, durchzuhalten.

 

Vor der Tür zum Bad treffe ich die freundliche Frau von gestern, sie will in aller Ruhe baden.
Ich bin noch nicht soweit, und als ich endlich von meinem Zimmer im anderen Flügel des
Ryokan zurückkomme, ist sie schon fertig. Wir wünschen uns gegenseitig alles Gute. In der
Badestube sind junge und ältere Frauen, junge mit makelloser Figur. Wenn so eine auf einem
der niedrigen Schemelchen sitzt und die langen schwarzen Haare wäscht, ist der Unterschied
zu ähnlichen Frauenbildern auf Holzschnitten von Utamaro kaum zu erkennen. Doch da hockt
auch eine ältere Frau mit „Röllchen“ am Körper. Die meisten wollen möglichst heißes Wasser,
und so drehe ich den Hahn zu, mit dem man das Nachfließen von kaltem Wasser regulieren
kann.

 

Eine der Frauen kommt aus Kesennuma. Ein Onsen gibt es dort nicht, höchstens in einem
Hotel, das ist aber nur zwei Stunden am Tag zugänglich. Auf meine Frage, ob dieses Bad hier
besser sei als ein normales ofuro, antworten alle zustimmend. Ich überlege, ob es wohl am
Eisen liegt… Im Vorraum rede ich noch mit einer etwas jüngeren Frau, um die vierzig mag
sie sein. Sie stammt aus Takata, wohnt in einer Notunterkunft am Yahagi-Bahnhof. Ihre
Familie hat sich gerade noch retten können aus ihrem Haus im Ortsteil Kesen, mit dem Auto,
die Flutwelle immer hinter ihnen. Das Bild geht ihr nicht aus dem Kopf, nachts kann sie
deswegen manchmal nicht schlafen. Und dazu die Angst vor neuen Beben. Am 11. März 2011
hatte es die Stärke 6, Dinge fielen herunter, und auch draußen hatte man Angst, weil der
Boden schwankte. So wie dieser Frau geht es sicher den meisten hier.

 

Es regnet ziemlich heftig. Bald werde ich schlafen – dabei ist es erst viertel vor neun. Die
Hitze des Bades – waren es 40°? – nehme ich mit unter den schweren futon, auf dem auch
noch zwei Decken liegen. Irgendwann unterbricht ein heftiger Regenguss die Stille der Nacht,
trommelt auf das Dach. So nahe an diesem Element habe ich mich noch nie gefühlt, es tobt
scheinbar direkt über meinem Kopf – und weckt die Erinnerung an Karuizawa, unser
Sommerrefugium in jenem Jahr 1959. Nach einer stürmischen Regennacht hatten umgestürzte
Bäume, darunter Fichten, den Weg vor dem Haus blockiert, der sich zudem in einen Bach
verwandelt hatte. Ich schaue nicht hinaus, blicke mich nur im Zimmer um, das wirklich sehr
einfach ist, wie das ganze Haus. Unwillkürlich muss ich an Issa denken. Er hätte mein
Quartier gewiss als fürstlich empfunden, er, der so bitterarm war.

 

Am nächsten Tag verlasse ich diese geschundene Gegend, in der den Menschen seit einem
Jahr viel Kraft, Mut und Durchhaltevermögen abverlangt wurde; in der die Menschen in
Hoffnung, Ungeduld und Resignation leben, auch wenn schon einiges geleistet worden ist.

 

 

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Erläuterungen: (Aussprache: ‚s’ immer stimmlos; ‚z’ = stimmhaftes s;‚ch’ = tsch; ‚j’ = dsch

Amaterasu: jap. Sonnengöttin
Amida: der im „Reinen Land“ herrschende Buddha
Anpan: mit gesüßten Bohnen, azuki, gefüllte weiche Semmel
Dainichi: der Lichtbuddha, B. des Gesetzes
Futon: Bettzeug – Genkan: Eingangsbereich, -flur; Diele
Hinoki: Lebensbaum; jap. Zypresse
Issa: berühmter Haiku-Dichter (18. Jht.)
Kachô: Blumen und Vögel (Genre in der Malerei)
Kannon: ein Boddhisatva (Avalokiteshvara) im Gefolge Buddhas, verkörpert die Barmherzigkeit
Kantô: das Gebiet um Tokyo
Meiji: Name eines Kaisers (Me’iji-Zeit 1868-1912)
Miso: vergorene, sorgfältig ausgereifte Sojabohnen-Grundsubstanz der jap. Küche
Ofuro: das Bad – Onsen: Thermalbad; heiße Quelle
Omusubi: Reiskloß
Otôsan-tachi: die Väter
Ryokan: japanisches Hotel; Gasthof
Ryôbu-shintô: die Einheit/Verquickung von Shintô und Buddhismus
Sansai: wildes Berggemüse Soba: Buchweizennudeln – Udón: Weizennudeln
Shimenawa: das geweihte, gedrehte Strohseil zur Kennzeichnung eines heiligen Raums/Bezirks
Shingon-shû: die Shingon-Schule (esoterischer Buddhismus)
Shintoismus: ursprüngliche japanische Religion („Weg der Götter“)
Shôjigami: durchscheinendes weißes Papier zur Bespannung der shôji (Schiebetüren)
Sôtô-Zen: eine Schule des Zen, der meditativen Ausprägung des Buddhismus
Sugi: Kryptomerie, eine Art Zeder – Tôhoku: der Nordosten
Torii: Tor vor dem Shintô-Heiligtum
Utamaro: berühmter Meister des jap. Farbholzschnitts (1754-1806)